Eine Reise durch die Geschichte – eine einzigartige Erkundung von Europas Vergangenheit

Kontext
Eine große Herausforderung in der internationalen Jugendarbeit besteht darin, junge Menschen für das gesellschaftliche und politische Miteinander in Europa zu sensibilisieren und gleichzeitig ihr Verständnis von Kriegen, ihren Hintergründen und Nachwirkungen auf dem Kontinent zu erweitern. Vor diesem Hintergrund haben die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW) das Pilotprojekt „Krieg(e) in Europa. Geteilte Erfahrung, Gemeinsame Erinnerung? – Deutschland, Frankreich, Bosnien und Herzegowina“ ins Leben gerufen..
Es war die erste Jugendbegegnung, die von der Stiftung EVZ und dem DFJW gemeinsam initiiert wurde. Die Stiftung EVZ finanziert und unterstützt Projekte im Bereich der internationalen Erinnerungsarbeit, das DFJW fördert den Jugendaustausch zwischen Deutschland und Frankreich, aber auch mit anderen Teilen Europas und seinen Nachbarländern. In die Kooperation floss das Fachwissen beider Organisationen ein. Ziel war es, junge Menschen für die Kriegsrealität in Europa und anderen Teilen der Welt zu sensibilisieren, insbesondere im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine.
Ausgangspunkt des Projekts waren die Kriege des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts und wie sie die Geschichte und die Identität der Menschen in den drei beteiligten Ländern prägen: Der Zweite Weltkrieg und die gelungene Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich, die Jugoslawienkriege und die damit verbundenen politischen Konflikte in der Region und der aktuelle russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Das Projekt sollte folgende Fragen beantworten: Wie gehen wir als Gesellschaft in Europa mit diesen Erfahrungen um? Welchen Einfluss haben sie auf den Alltag junger Menschen und wie können wir mit ihnen darüber sprechen? Mit dem Projekt haben das DFJW und die Stiftung EVZ einen Raum geschaffen, in dem Fachkräfte aus den drei Ländern Methoden entwickelt haben, um mit jungen Menschen das Thema Krieg und Kriegserfahrungen zu behandeln. Die Fachkräfte sind alle in der formalen und non-formalen Bildung tätig und haben Erfahrungen in der (internationalen) Jugendarbeit. Die Fachkräfte haben die Methoden auf einer Jugendreise von Paris nach Sarajevo getestet. Die Reise fand vom 9. bis 19. Oktober 2023 statt. Es nahmen junge Menschen zwischen 18 und 24 Jahren aus Deutschland, Frankreich und Bosnien-Herzegowina daran teil. Diese Publikation ist das Ergebnis des Pilotprojektes und gibt einen Einblick in die gesammelten Erfahrungen.
Der Reiseaspekt machte das Projekt einzigartig. Die Teilnehmenden begaben sich auf eine Reise von West- nach Osteuropa: 10 Tage, 5 Städte in 5 verschiedenen Ländern von Paris nach Sarajevo. Sie erforschten die Geschichte an historischen Orten, die für die militärischen Konflikte in Europa im 20. Jahrhundert stehen und den Kontinent geprägt haben. Sie analysierten die Geschichten dahinter und deren Relevanz für die Menschen dieser Regionen.
Die Reise begann in Frankreich mit einem genaueren Blick auf den Ersten Weltkrieg, die Sicht der Menschen in Frankreich darauf und die Spuren, die er in Versailles und Paris hinterlassen hat. Das Thema ist zwar weit weg von der Erfahrungswelt der jungen Teilnehmenden, aber gerade in Paris mit seinen unzähligen Gedenkstätten auch heute noch präsent. Der Besuch des Arc de Triomphe und des Grabes des unbekannten Soldaten im Herzen von Paris war der Höhepunkt unseres Aufenthaltes in Frankreich. Die ewige Flamme ist ein Symbol des Gedenkens, an der sich zunächst die Veteranen versammelt hatten und an der heute andere Menschen zusammenkommen. Damit halten sie die Erinnerungsarbeit aufrecht. Die Flamme schafft außerdem eine Verbindung zwischen den Teilnehmenden aus Frankreich und Bosnien und Herzegowina. Denn auch in Sarajevo gibt es eine Flamme zum Gedenken an die (zivilen und militärischen Opfer) des Zweiten Weltkrieges.


Weiter ging die Reise nach München, wo wir uns mit der besonderen Rolle der Stadt beim Aufstieg des Nationalsozialismus Ende der 1920er Jahre beschäftigten. Das NS-Dokumentationszentrum will als Ort der Erinnerung über das Erstarken des Rechtsextremismus und seiner Unterstützer:innen zwischen den beiden Weltkriegen in München informieren. Die Lehren sind heute wieder aktuell, da vergleichbare Bewegungen bei jeder neuen Wahl in allen Ländern Europas an Stimmen gewinnen. Das Fazit: Wir müssen alle wachsam bleiben, damit sich die Geschichte nicht wiederholt.
In Wien, dem „Tor zum Balkan“, erkundeten wir die Spuren, die der Zweite Weltkrieg dort hinterlassen hat. Wir hatten Gelegenheit, mit der lokalen Bevölkerung zu sprechen, um die Bedeutung und die Geschichte der über die ganze Stadt verteilten Gedenkstätten zu verstehen, sie mit den Augen der Menschen in Wien zu sehen und ihre persönliche Meinung zu hören, ob und warum diese Orte angenommen oder abgelehnt wurden.
Je näher wir Sarajevo kamen, desto mehr tauchten wir in die Gegenwart ein und in die Konfrontation mit Kriegen, die zwar der Vergangenheit angehören, aber in den Zeitzeug:innen und in der Pflicht zur Erinnerung noch immer nachhallen.


Auf unserem Weg nach Bosnien und Herzegowina hielten wir in Jasenovac an, einem wichtigen Erinnerungsort für die Balkanregion. Jasenovac liegt direkt an der Grenze zwischen Kroatien und Bosnien und Herzegowina. Dieser Ort kommt in der deutschen und französischen Geschichtserzählung nicht vor, teilt jedoch die schrecklichen Vorkommnisse, die sich in den Vernichtungslagern des Zweiten Weltkriegs abgespielt haben. Verknüpft mit der NS-Ideologie gab es einen tiefen Hass gegen ethnische und religiöse Minderheiten, der zu systematischen Massakern führte. Beim Besuch dieser Gedenkstätte konnten alle Teilnehmenden ihr Geschichtsverständnis erweitern, während wir uns gleichzeitig als Gruppe vergegenwärtigten, wie wichtig die Erinnerung und das Nicht-Vergessen sind.
In Sarajevo endete unsere Reise durch Geschichte und Geografie. Dort laufen die Kriegsereignisse, mit denen wir uns auf der Reise befasst hatten, zusammen. Sarajevo ist ein Beispiel für eine Region, die noch immer mit den Folgen von Kriegen, aber auch mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, konfrontiert ist. Wir begaben uns auf das Terrain der jüngsten Geschichte, wo Menschen, die nur 10 Jahre älter waren als die Teilnehmenden, Opfer eines Krieges in Europa wurden. Beim Workshop „Lebendige Bibliothek” in Sarajevo hörten die Teilnehmenden Zeitzeug:innenberichte. Sie konnten zuhören und anhand von individuellen Erzählungen die Geschichte verstehen und mit ihr interagieren.

Die Vorteile des gemeinsamen langsamen Reisens
Eine der Herausforderungen dieses Projektes bestand in der Reise an sich. Reisen und gleichzeitig die Umwelt schützen ist kein leichtes Unterfangen, weil die Nutzung des Flugzeugs angesichts begrenzter Zeit und Ressourcen oft die günstigere Alternative ist. Reisen im Zug und Bus ist zwar umweltfreundlicher, ist aber auch mit weniger Zeit für das inhaltliche Programm verbunden. Das ist für die meisten Projektträger ein erheblicher Nachteil. Aber anstatt von Flughafen zu Flughafen zu hetzen und so nur wenig Kontakt mit den besuchten Ländern zu haben, hat uns das langsame Reisen im Rahmen dieses Projekts eine andere Art der Fortbewegung in Europa gezeigt. Ein Teilnehmender sagte: „[…] Mir hat das Reisen mit der Gruppe gut gefallen. Das war ein interessanter Aspekt des Projekts, denn normalerweise sind wir die ganze Zeit nur an einem Ort und das war‘s […]“.
Diese Art des Reisens bietet auch einzigartige informelle Momente, die der Gruppendynamik zugutekommen. Man hilft sich gegenseitig mit dem Gepäck, sitzt in Zweier- oder Vierergruppen zusammen, kann sich entspannen, Spiele spielen, Zeit für sich haben, lockere Gespräche führen oder gemeinsam einen Film anschauen. Sie sitzen mit ihren Peers zusammen, die die gleiche Sprache sprechen, oder in gemischten Gruppen und unterhalten sich mit Menschen aus einem anderen Land. Manchmal sitzen sie sogar neben einer Person, die gar nicht zur Gruppe gehört, und führen ein angeregtes Gespräch. Sie können auch neu gelerntes Vokabular in einer der Sprachen der Gruppe anwenden. In diesen Phasen erwartet niemand etwas von den anderen und die Verbindungen ergeben sich einfach so (oder auch nicht, und das ist auch in Ordnung). Eine Teilnehmende bestätigte: „[…] Es hilft den Leuten, sehr schnell Beziehungen aufzubauen“.
An jedem Ort kamen die Teilnehmenden mit großer Neugier auf ihre neue Umgebung an. Sie hatten Zeit, um herumzulaufen und sich mit den Straßennamen und den Geschäften vertraut zu machen. Sie freuten sich darauf, gemeinsam die Stadt zu erkunden und das Essen zu kosten. Dadurch entstand ein Raum, in dem sie ihre Eindrücke mit anderen Teilnehmenden austauschen konnten, die sich mit dieser Erfahrung identifizieren konnten. Sie bekamen auch eine bessere Vorstellung davon, wie lange es tatsächlich dauert, von einem Land in Europa in ein anderes Land zu reisen, und wie bereichernd es ist, sich diese Zeit zu nehmen. Die Teilnehmenden erlebten hautnah die Veränderungen, die sich während der Reise durch die unterschiedlichen Sprachen, Verhaltensweisen, Stimmungen, Wetterbedingungen und kulturellen Feinheiten zwischen den Ländern, die wir durchquerten, ergaben. All dies beeinflusste das Verständnis und die Erfahrung der Teilnehmenden an jeder Station. Es war etwas ganz Besonderes für sie, anders als alles, was sie kannten: „[…] Der Reiseaspekt war super, fast jeden Tag eine andere Stadt oder ein anderes Land, es war ein Abenteuer! […]”
Es war eine großartige Erfahrung, durch Länder zu reisen, in denen jeder einmal die Reiseleitung übernehmen, dolmetschen oder mobile Daten teilen konnte (heutzutage besonders wichtig). Die Teilnehmenden konnten sich während der Reise gegenseitig unterstützen und lernten, sich aufeinander zu verlassen. Die Teilnehmenden aus drei verschiedenen Sprachgruppen, die zu Beginn der Reise zwar neugierig, aber zurückhaltend waren, wurden durch die Reise ermutigt, Kontakte zu knüpfen, miteinander zu sprechen, voneinander zu lernen und einander zu vertrauen.
Herausforderungen von Studienreisen in Gruppen
Da der (langsame) Reiseteil der Jugendbegegnung zeitaufwändig ist, ist es wichtig, einen Teil des Programms dem „gegenseitigen Kennenlernen“ der Teilnehmenden zu widmen (mindestens zwei volle Vormittage). Ziel ist es, Verbindungen auf persönlicher und sprachlicher Ebene und eine Gruppendynamik zu schaffen, in der alle sie selbst sein und ihre Gefühle äußern können, ohne in Verlegenheit zu geraten. Dies ist besonders wichtig, wenn das Thema, wie in unserem Projekt, emotional stark aufgeladen ist. Sprachanimation, Theaterübungen und Kooperationsspiele bringen die jungen Menschen zusammen und erleichtern das Miteinander. Es bringt viel, wenn diese Programmpunkte jeden Tag während der Reise angeboten werden. So haben wir sehr schnell eine Veränderung in der Gruppe festgestellt. Die anfänglich gebildeten Sprachgruppen lösen sich auf und es bilden sich Gruppen mit ähnlichen Interessen. Und genau darum geht es!
Es ist auch wichtig, Gelegenheiten für Feedback zu schaffen, bei denen die Teilnehmenden ihre Meinung äußern und über den vergangenen Tag reflektieren können. Da die Gruppe ständig unterwegs ist, um bestimmte Orte in einer Stadt zu erreichen oder um in ein anderes Land zu reisen, mag dies überflüssig erscheinen. Aber eine Routine, in der die Teilnehmenden Zeit haben, sich zu äußern, ist langfristig von Vorteil, sowohl für den Lerneffekt als auch für die Gruppendynamik.
Die Reisezeit ist ein schwer greifbarer Bereich in einem Projekt. Sie wirkt wie „unausgefüllte Zeit“ und ist daher die perfekte Gelegenheit, Dinge zu tun, für die während des Programms vor Ort keine Zeit war (Diskussion bestimmter Themen, Recherchen, Schaffung von Inhalten). Aber sie ist nicht unausgefüllt, ganz im Gegenteil. Wie oben bereits erwähnt, ist es der perfekte Zeitpunkt für die Teilnehmenden, um miteinander in Kontakt zu treten, Energie zu tanken und die Erfahrungen der letzten Tage zu verarbeiten. Für die Gruppendynamik ist es positiv, dass die Reise diese Zeit und diesen Ort bietet, damit die Teilnehmenden gesund, gut gelaunt und ausgeruht bleiben.
Fünf Länder in zehn Tagen und ein volles Programm: Es versteht sich von selbst, dass das Team sehr gut vorbereitet sein muss, sowohl vor der Reise bei der Buchung und Planung von Besichtigungen als auch während der Reise mit einer klaren Aufgabenverteilung unter den Teammitgliedern. Dies erfordert eine klare Kommunikation und Aufgabentrennung. Es erleichtert auch den Teilnehmenden, zu wissen, an wen sie sich wenden können. Es bringt Ruhe in die gesamte Gruppe in einer aufregenden Zeit im Projekt.
Fazit
Dieses außergewöhnliche Projekt stiftete Freundschaften, inspirierte die Teilnehmenden und das Team, bot die seltene Gelegenheit, durch Zeit und Raum zu reisen, brachte den jungen Menschen eine Vielzahl historischer Narrative näher und zeigte ihnen, wie wichtig Toleranz, Diskussion und Frieden sind.
Autorin: Morgane Quatremarre Bonnel