8. Lebendige Bibliothek: verschiedene Kriege, gleiche Schicksale
Überblick
Im Workshop „Lebendige Bibliothek“ führen die Teilnehmenden in Kleingruppen Diskussionen mit „lebenden Büchern“, also Zeitzeug:innen von historisch bedeutsamen Ereignissen. Wichtig ist, dass die Bücher hier von Menschen gespielt werden und die Leser:innen Teilnehmende des Workshops sind. Durch das Erzählen und den interaktiven Austausch bilden alle Mitwirkenden ihre eigene Perspektive auf die Ereignisse und hinterfragen die historischen Narrative kritisch.
Ziele
- Sich einen eigenen Eindruck von einem historischen Ereignis durch persönliche Gespräche mit Zeitzeugen verschaffen.
- Nachdenken über historische Narrative ausgehend von den persönlichen Geschichten von Zeitzeugen.
Schlüsselbegriffe
- Mündlich überlieferte Geschichte
- Gespräche mit Zeitzeug:innen
- Historische Narrative
Teilnehmendenzahl
15 bis 30 Personen. Das Nachdenken über Informationen spielt in diesem Workshop eine wichtige Rolle und ist mit einer Gruppe von bis zu 30 Personen am effektivsten.
Zielgruppe
- Die Teilnehmenden sollen mindestens 14 Jahre alt sein und ein Grundverständnis für das jeweilige historische Ereignis mitbringen.
- Die Teilnehmenden sollten reflektieren und kritisch denken können, um die Informationen zu verarbeiten.
Dauer
120 bis 150 Minuten
Material / Vorbereitung
- Bücher: 4 bis 5 Zeitzeug:innen historischer Ereignisse. Der/Die Teamer:in führt in die „Bücher“ ein, erläutert die Methode der „Lebendigen Bibliothek“ und erteilt den „Büchern“ Anweisungen für den Workshop: Das Hauptziel besteht darin, dass die „Bücher“ ihre Geschichten so erzählen, dass die Lesenden die Blickwinkel von Personen verstehen, die das historische Ereignis miterlebt haben. Es werden Emotionen vermittelt, die damals oder heute in Bezug auf die Vergangenheit empfunden werden.
Ablauf
– Die „Bücher“ können mit ihrer Erzählung beginnen, um die Perspektive oder die Rolle, aus der die Geschichte dargestellt wird, zu verdeutlichen. Um die Unvoreingenommenheit zu gewährleisten, sollten Details wie Staatsangehörigkeit oder Kriegspartei weggelassen werden.
– Jeder Durchgang kann anders gestaltet werden. Entweder wird die Geschichte zuerst aus dem Buch vorgelesen
und dann werden Fragen gestellt, oder es wird ein Gesprächs-/ Interviewformat mit Fragen und Antworten gewählt. Die Geschichten können von einem Durchgang zum nächsten geändert werden, ausgehend von den Fragen der „Leser:innen“. Wichtig ist, dass der Austausch nicht nur auf die Vorstellung der Bücher begrenzt wird; auch die Leser:innen sollten sich aktiv in das Gespräch einbringen.
– Dabei muss nicht die chronologische Reihenfolge wie in Geschichts- büchern eingehalten werden. Wichtig sind die eigene Perspektive und Erfahrung.
– Die Erzählung muss nicht das gesamte Ereignis umfassen, sondern kann sich auf denkwürdige Momente, wichtige Emotionen, Reaktionen oder Erinnerungen konzentrieren.
– Vorgefasste Schlussfolgerungen sind zu vermeiden, damit die Teilnehmenden die Narrative verarbeiten und Verbindungen zu anderen Erzählungen herstellen können. - Räume: Ein separater Raum für jedes „Buch“ ist notwendig, um einen ungestörten Ablauf und einen geschützten Raum zu gewährleisten.
- Organisation: Der/Die Teamer:in muss in der Lage sein, einen geschützten Raum für denAustausch über persönliche Erfahrungen zu schaffen und schwierige Gespräche zu moderieren. Es kann notwendig sein, Dolmetscher:innen hinzuzuziehen.
- Material: Papier, Moderationskarten, Sticker, Marker und Kugelschreiber
Ablauf
Erster Schritt (20 Minuten): Einführend wird den Teilnehmenden der Inhalt der Methode erklärt und es werden spezifische Grundsätze für die Aufnahme von Gesprächen zu schwierigen Themen vorgestellt. Die Teilnehmenden werden ermutigt, dies als geschützten Raum für den Austausch über ihre Gedanken zu nutzen und sich nicht zu scheuen, Fragen zu stellen.
Der/Die Teamer:in stellt die Bücher vor; nützlich sind Kurzprofile, damit die Teilnehmenden einen Überblick über die Geschichten erhalten, die sie in den nächsten Stunden „lesen“ werden. Anschließend haben die Teilnehmenden 10 bis 20 Minuten Zeit, um Fragen an die „Bücher“ zu formulieren. Sie können die Fragen einzeln oder in kleinen Gruppen ausarbeiten.
Der/Die Teamer:in teilt die Teilnehmenden in gemischte Gruppen ein, jeweils mit speziellen Vorgaben für das Gespräch mit den Büchern. Alternativ können die Teilnehmenden ihre Vorgaben selbst wählen. Wichtig ist, dass die Gruppen ausgewogen sind.
Zweiter Schritt (90-120 Minuten): Die Lebendige Bibliothek ist nun geöffnet und die Leser können die „Bücher“ ausleihen. Es gibt 3 oder 4 Durchgänge von jeweils 30 Minuten Dauer. In diesen 30 Minuten besuchen die Leute ein bestimmtes Buch. Jedes Buch hat ca. 10 Minuten, um seine Geschichte zu erzählen. Anschließend haben die Leser*innen 10 bis 15 Minuten, um Fragen zu stellen. Danach endet der Besuch und die Lesergruppe geht zu einem anderen Buch. Wichtig ist, dass die Leser*innen dazwischen jeweils 5 Minuten Pause haben, um in einen anderen Raum zu gehen und sich auf eine neue Geschichte vorzubereiten.
Dritter Schritt (15-30 Minuten): Nach zwei Stunden intensiver und höchst informativer Interaktionen mit den „Büchern“ wird eine Rückschau durchgeführt. Die Teilnehmenden setzen sich zusammen, um die Informationen ausgehend von gezielten Fragen zu betrachten. Alle Teilnehmenden werden gebeten, die folgende Frage zu beantworten: „Was habe ich für mich selbst gelesen?“ In einer kürzeren Fassung müsste die Antwort in drei Wörtern zusammengefasst werden. Alternativ (und zeitaufwändiger) könnten die Teilnehmenden erklären, was sie aus der Erfahrung gelernt haben. (Die bebilderten Stichwortkarten können bei einer visuellen Rückschau hilfreich sein.)
Tipps für die Durchführung
1. Bücher finden: Organisationen (NGOs, Museen, Stiftungen), die im Bereich Geschichte und Erinnerung tätig sind, können hilfreich sein. Sie haben wahrscheinlich Projekte, die mit der Neubewertung der Geschichte und dem Umgang mit Zeitzeug:innen zu tun haben. Die folgenden Links führen zu bosnischen Organisationen, die im Bereich Geschichte und Erinnerung tätig sind.
https://zena-zrtva-rata.com/
https://www.jusp-donjagradina.org/
https://warchildhood.org/ba/
2. Zeitliche Planung: Diese Methode sollte zu Beginn des Projektes zur Einführung in die historischen Inhalte verwendet werden. Die Teilnehmenden werden durch persönliche Geschichten mit dem historischen vertraut gemacht, bevor sie sich mit den Fakten auseinandersetzen (z. B. durch Museumsbesuche).
3. Ort: Die Wahl des Ortes kann eine wichtige Rolle spielen, etwa wenn in Sarajevo über den Bosnienkrieg gesprochen wird.
4. Buchprofile: Die Bücher sollten unterschiedliche Gruppen verkörpern und so verschiedene Blickwinkel einbeziehen, darunter Geflüchtete, humanitäre Helfer:innen, junge Soldat:innen und Kinder im Krieg.
5. Vorbereitung der Bücher:
- Es muss für die Bücher ein geschützter Raum eingerichtet werden, um die Diskussionen vorzubereiten.
- Es steht den Büchern frei, bestimmte Fragen nicht zu beantworten.
- Die Bücher werden dazu angehalten, während der Diskussion auf ihre eigenen Reaktionen zu achten.
6. Vorbereitung der Teilnehmenden und Diskussionsgrundsätze:
- Die Teilnehmenden können Fragen stellen, sollten aber nicht unbedingt Antworten erwarten, da bestimmte Fragen für die Bücher provokativ sein können.
- Die Teilnehmenden sollten auf ihre eigenen Reaktionen und die der anderen achten.
- Die Teilnehmenden entscheiden, wie sie sich einbringen; auch kommentarloses Zuhören ist erlaubt.
- Diskussionen oder Kommentare über andere sind nicht erlaubt.
Hintergrund
Ausführliche Informationen zur „Lebendigen Bibliothek“ gibt es auf der Website des Europarates: Die erste Lebendige Bibliothek (Menneske Biblioteket auf Dänisch) wurde im Jahr 2000 in Dänemark beim Roskilde Festival organisiert. Die ursprüngliche Idee stammte von der dänischen Jugend-NGO „Stop the Violence“ (Foreningen Stop Volden) und war ein Angebot für Festivalbesucher:innen. Ursprünglich war die Lebendige Bibliothek ein Mittel zur Bekämpfung von Vorurteilen und Diskriminierung. (https://www.coe.int/en/web/youth/living-library)
Varianten
Wenn es dem Team nicht gelingt, genügend Bücher zu finden, kann die Methode durch die folgenden Alternativen ergänzt werden. Dies kann entweder in einem separaten Gesprächszyklus parallel zu den Büchern oder in einem separaten Workshop zur Selbstreflexion geschehen.
Teilnehmende als „Lebende Bücher“ – Erforschung von Familiengeschichte(n)
Die Teilnehmenden können zu Büchern über ihre eigene Familiengeschichte werden und über ihre Erfahrungen, Erinnerungen und Erlebnisse berichten. Sie können erklären, wie ihre Familien auf verschiedene historische Ereignisse reagiert haben. Dabei sollen sie ihre persönlichen Narrative in einen breiteren historischen Kontext setzen. Es ist wichtig, dass die Teilnehmenden verstehen, dass ihre Geschichten keine isolierten Erzählungen aus der Vergangenheit sind, sondern dass sie mit der Gegenwart verknüpft sind. Das Team kann bestimmte Zeiträume und Ereignisse auswählen, um die Diskussion zu fokussieren.
Diskussionsrunde – Teilnehmende als aktiv Mitwirkende an der Geschichte:
Das Team kann die Diskussion auf Überlegungen zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lenken. Dazu kann es den Teilnehmenden Fragen an die Hand geben, um die Diskussion anzuregen und sie daran zu erinnern, dass sie in der Gegenwart Geschichte schreiben. Beispiele
für mögliche Fragen:
- Friedenssicherung hat ihren Preis. Welchen Preis seid ihr bereit zu zahlen?
- Wann ist der richtige Zeitpunkt zum Handeln?
- Wenn denkt ihr über Geschichte nach? Was ist für
euch wichtig? Was habt ihr auf dieser Reise gelernt? - Gewalt und Konflikte: Wie wollt ihr damit umgehen?
- Wie kann die Vergangenheit eurer Ansicht nach die Zukunft beeinflussen?
- Wie könnt ihr Menschlichkeit fördern?
Dieser Ansatz eignet sich für den Abschluss des Projekts, nachdem die Teilnehmenden einen Überblick über historische Ereignisse gewonnen haben. Er bietet die Möglichkeit, die Kluft zwischen dem, was die Teilnehmenden von Zeitzeug:innen erfahren haben, und ihrer eigenen Rolle als Zeug:innen und aktive Mitgestalter:innen aktueller Ereignisse zu überbrücken.

Teilnehmende beim „Lesen“ des Buches „Mladjen“